Musik der frühen Neuzeit
Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.-18. Jahrhunderts
Schriftenreihe, herausgegeben von
Joachim Kremer
Die
‚Frühe Neuzeit‘ wird von tiefgreifenden Ereignissen
und Entwicklungen geprägt, z.B. von der Reformation oder der sog.
Verbürgerlichung der Musik mit neuen Formen der Distribution und
Rezeption von Musik, nun unter neuen funktionalen und ästhetischen
Vorzeichen. Die Schriftenreihe vereinigt monographische Studien,
Sammelpublikationen und Quelleneditionen zur Musikgeschichte zwischen
1500 und 1800. Sie will anregen, Zusammenhängen und
Verbindungslinien über die traditionell gezogenen Epochengrenzen
hinweg nachzuspüren. Dies kann gleichermaßen
interdisziplinär und über die Betrachtung größerer
Entwicklungen oder Zeiträume erfolgen, aber auch über
spezifisch musikbezogene oder fallstudienartige
‚Momentaufnahmen‘. Somit ist diese Reihe offen für die
Vielgestaltigkeit musikgeschichtlicher Entwicklungen und für die
Verwebung von Phänomenen, d. h. für Fragen der Gattungs- und
Kompositionsgeschichte wie auch der Sozialgeschichte, der Biographik,
der Ästhetik und Musiktheorie.
Band 1:
Kremer, Joachim:
Joachim Gerstenbüttel (1647-1721) im Spannungsfeld von Oper und
Kirche; 978-3-928770-93-4; 420 S., Hamburg 1998; Musik der frühen
Neuzeit, 1; 25,00 Euro
In
seiner Monographie über Joachim Gerstenbüttel (1647-1721) umreißt
Joachim Kremer das Leben des aus Wismar stammenden Musikers und
Komponisten, das in eine Phase tiefgreifender kulturgeschichtlicher
Wandlungen fällt. Vor allem in Hamburg, dem Ort seines 46jährigen
Wirkens, zentrierten sich diese Entwicklungen wie in kaum einer
norddeutschen Stadt: Die theologischen Auseinandersetzungen um den
Pietismus, die Eröffnung einer Oper, die Begründung eines neuen
Kirchspiels, das Aufkommen konzertartiger Darbietungen und die
engagierte Musikförderung des Domkapitels konkurrierten mit der
zentralen Position des Kantors und ließen so das hamburgische
Musikleben äußerst vielschichtig werden.
Im
umfassenden Wandel der institutionellen und musikalischen Strukturen
und Vorbilder, also in der Auseinandersetzung mit der Oper und den
verwandten Gattungen, wirkte Gerstenbüttels Position auf die
Zeitgenossen „befremdlich“. Der Hamburger Kantor repräsentiert somit
eine „Gegenposition“ zur theatralischen und italienisch beeinflußten
Musik. Seine Polemik gegen die „krumme Operen Schlange“, die „liebe zu
französischen, italienischen welteitelkeiten“ und „juckende Ohren nach
den Opern“ steht somit in krassem Gegensatz zum Standpunkt vieler
seiner Zeitgenossen, aber auch seines Amtsnachfolgers Georg Philipp
Telemann. Um so klarer lassen sich an seiner Person und seinem
musikalischen Wirken die Auffächerung und der Spannungsreichtum des
hamburgischen Musiklebens zwischen 1674 und 1721 beschreiben.
Die
sprachlich präzise, durchsichtige wie umsichtige Erläuterung der in der
Hansestadt um 1700 wirkenden Kräfte (ergänzt durch einen umfangreichen
Quellenanhang sowie den Abdruck ausgewählter Kompositionen nebst
Register) verleiht diesem Buch exemplarischen Rang.
Michael Kube, in: Musik und Kirche, 68. Jg., 4/1998
So
bestätigt sich wieder einmal, daß auch Außenseiter-Monographien die
Forschung voranbringen können, zumal wenn die strukturgeschichtlichen
Ermittlung eine Weltstadt wie Hamburg betrifft.
Werner Braun, in: Die Musikforschung, 52. Jg., 2/1999
Especially
those interested in this dark age of sacred music in Hamburg will
appreciate Joachim Kremer's thorough illumination of the time
surrounding the pivotal year of 1700.
Frederick K. Gable in: Journal of Seventeenth-Century Music, Vol. 5, 1/1997
Band 2:
Kremer, Joachim;
Jekutsch, Friedrich; Schnoor, Arndt (Hg.): Christian Flor (1626-1697) -
Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800). Texte und Dokumente zur
Musikgeschichte Lüneburgs; 3-932696-04-2; 260 S., Hamburg 1997;
Musik der frühen Neuzeit, 2; 15,50 Euro
(= Veröffentlichungen der Ratsbücherei Lüneburg, Band 6)
(= Musik der frühen Neuzeit, Band 2) (Der Titel ist vergriffen)
Christian Flor
(1626-1697) und Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) sind in
unterschiedlicher Weise mit der Musikgeschichte der Stadt Lüneburg
verbunden: Während Flor durch sein Wirken als Organist und
Komponist über viele Jahre hinweg in Zusammenarbeit mit den
Kantoren das städtische Musikleben prägte, profitierte der
1747 in Lüneburg geborene spätere Berliner und Kopenhagener
Kapellmeister Schulz von den tradierten Strukturen: Er genoß hier
seinen ersten musikalischen Unterricht und erhielt über den
Johannisorganisten Johann Christoph Schmügel, einem Nachfolger
Flors, Anregungen, die sein langjähriges Wirken außerhalb
Lüneburgs einleiteten.
Der
anläßlich einer Gedenkausstellung in der Ratsbücherei
Lüneburg zusammengestellte Band enthält zahlreiche
musikalische und archivalische Dokumente zu Flor, Schulz und der
Musikgeschichte Lüneburgs. Er bietet biographische Abrisse zu
beiden Komponisten, im Falle Schulz’ auch den Wiederabdruck
seiner autobiographischen Skizzen und im Falle Flors zudem ein
aktualisiertes und erweitertes Werkverzeichnis. Den
kompositionsgeschichtlichen Fragestellungen widmen sich die weiteren
Studien: Beziehungen zu Georg Böhm und der französsichen
Cembalomusik werden anhand der neu zugeschriebenen Cembalowerke Flors
aufgezeigt, und mit Flors Vokalwerken wird die Frage der
Gelegenheitsmusiken des Johannisorganisten thematisiert. Flors
zahlreichen geistlichen Liedern widmet sich ein Beitrag, der die
Zusammenarbeit mit dem Dichter Johann Rist umreißt und der die im
Lüneburger Sternverlag publizierten Lieder im Kontext
pietistischer Liedkompositionen betrachtet. Johann Abraham Schulzens
bekanntes Lied Der Mond ist aufgegangen verkörpert dagegen eine
ganz andere Liedvorstellung, die in einem biographischen Abriß
als Teil seines musikpolitischen und musikerzieherischen Konzepts
dargestellt wird.
Aus dem Inhalt:
I: Texte und Dokumente zu Christian Flor (1626-1697)
Arndt Schnoor: Christian Flor und das Lüneburger Musikleben seiner Zeit
Hilde Szwerinski: Verzeichnis der erhaltenen und nachweisbaren Werke Christian Flors
Arndt Schnoor: Christian Flors Werke für Tasteninstrumente
Joachim Kremer: Der "kunstbemühte Meister": Christian Flor als Liedkomponist Johann Rists
Joachim Kremer: " ...tanzet, springet in die Wette..." Über Christian Flors Vokalkompositionen
Friedrich Jekutsch: Ausstellungskatalog Christian Flor
II: Texte und Dokumente zu Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800)
Arndt Schnoor: Johann Abraham Peter Schulz: Weltbürger und "musicus politicus"
Heinz Gottwaldt: Johann Abraham Peter Schulz. Autobiographische Skizze über seine Jugend in Lüneburg
Friedrich Jekutsch: Ausstellungskatalog Johann Abraham Peter Schulz
Band 3:
Bayreuther, Rainer; Joachim Kremer: „Für Wirtemberger und andere biedere Schwaben“. Johann
Friedrich Christmanns Vaterlandslieder (1795) in ihrer Zeit. Mit einer
Faksimile-Edition. 160 Seiten, ISBN 978-3-95675-014-4, 25,00 Euro
Im ausgehenden 18. Jahrhundert kommt in Württemberg ein
patriotisches Bewusstsein auf. Nicht ein nationales Gebilde, sondern
das Schwäbische steht in seinem Zentrum. Das Phänomen
prägt eine geistige Identität aus, die nicht auf eine
bestimmte territoriale und politische Einheit begrenzt ist. Biederkeit
ist der Inbegriff dieses geistigen Schwabentums.
„Bruderlieb’ und Biederkeit / Hat der Schwabe nie
entweiht“, dichtet Friedrich Ritter.
Dieses Bewusstsein wird in den Vaterlandsliedern des in Heutingsheim
bei Ludwigsburg wirkenden Pfarrers Johann Friedrich Christmann
(1752-1817) aufgegriffen und befördert. Christmann stellt Gedichte
zeitgenössischer Autoren zusammen, in denen Orte wie Esslingen,
Lorch, Schorndorf, Staufen oder Weinsberg besungen werden, auch
Württemberger Persönlichkeiten wie Graf Eberhard der Greiner,
Konradin von Schwaben, Götz von Berlichingen, Nikodemus Frischlin
oder Johannes Kepler und historische Stätten und Begebenheiten wie
der Württemberg oder der Überfall auf Graf Eberhard im
Wildbad.
Christmanns Liedersammlung ist eine mentalitäts- und
musikgeschichtlich bedeutende Quelle. Sie wird hier vollständig
wiedergegeben. Zwei musikwissenschaftliche Studien kommentieren sie und
umreißen den historischen Kontext der Vaterlandslieder.
ÜBER DIE AUTOREN: RAINER BAYREUTHER (Musikhochschule Trossingen)
und JOACHIM KREMER (Musikhochschule Stuttgart) sind Professoren
für Musikwissenschaft, der eine „schwäbisch“ von
Geburt und Gesinnung, der andere überzeugter
„Schwaben-Forscher“.
Band 4:
Silke
Wenzel: Lieder, Lärmen, ›L’homme armé‹.
Musik und Krieg 1460–1600. 424 Seiten, ISBN
978-3-95675-016-8, 48,00 Euro
Seit dem 14. Jahrhundert setzte sich das Söldnerwesen in Europa
durch und löste das feudale Rittertum des Mittelalters ab.
„Kriegsunternehmer“ mit ihren marodierenden Söldnern
bestimmten zunehmend das Kriegsgeschehen.
Erstmals wird in der vorliegenden Arbeit das Verhältnis von Musik
und Krieg im ausgehenden Mittelalter und in früher Neuzeit aus
musikwissenschaftlichem Blickwinkel eingehend untersucht. Dabei setzt
die Autorin für die Zeit von 1460 bis 1600 auf drei Ebenen an:
1. Krieg als Zweck. Musiker und Musik in
Kriegsdiensten (Themenfelder u.a.: Musiker in Kriegsdiensten –
Musikalische Befehlssysteme – Trompeter und Heerpauker –
Pfeifer und Trommler als Musiksöldner).
2. Krieg im Lied. Melodien als Element der
Publizistik (Themenfelder u.a.: Melodien und ihr Bedeutungswandel im
16. Jahrhundert – Kriegserzählungen – Spottlieder und
Feindbilder – Kriegsaufrufe – Politik im mehrstimmigen
Gesellschaftslied – Liedersammlungen des frühneuzeitlichen
Bürgertums).
3. Krieg zwischen musikalischem Spiel und
christlicher Mythifizierung (Themenfelder u.a.: Krieg als musikalisches
Spiel – Siegesfeier – Herrscherlob: Die politische
Vokalbataille – Mythifizierung: Der bewaffnete Mann in Lied und
Messe).
Am Beispiel des Ausnahmezustands „Krieg“ werden die
Beziehungen zwischen Alltag, musikalischem Handeln und kompositorischem
Material herausgearbeitet.
Die Arbeit wurde am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation angenommen.
Band 5:
Florian Vogt: Die „Anleitung zur musikalischen Setzkunst”
von Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749) – Edition
und Kommentar. 368 S., ISBN 978-3-95675-019-9, 39,80 Euro
Gottfried Heinrich Stölzels (1690-1749) „Lehr- und
Wanderjahre“ führten vom Gymnasium in Gera ab 1707 zum
Studium nach Leipzig. Schon in jungen Jahren war er europaweit bekannt
und pflegte Kontakt zu berühmten Musikern wie Antonio Vivaldi.
Zwischen 1719 und 1749 war Stölzel in Gotha sesshaft und als
Kapellmeister tätig. Für manche Zeitgenossen überragte
der Ruf seines Werks den des Leipziger Kollegen Johann Sebastian Bach.
Während
in heutiger Zeit Stölzels Bedeutung als Komponist zunehmend wieder
ins Blickfeld rückt, ist bislang kaum beachtet worden, dass er zu
seiner Zeit eine wichtige Rolle als Musiktheoretiker spielte.
Hier
setzt die vorliegende Arbeit an: Erstmals wird Stölzels
„Anleitung zur musikalischen Setzkunst“, die nur in einer
einzigen Abschrift aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
überliefert ist, in einer annotierten Edition zugänglich
gemacht und einer ausführlichen Untersuchung unterzogen. Gefragt
wird, in welchem Kontext Stölzels Schrift entstand und welche
Impulse seine theoretischen Arbeiten für die Weiterentwicklung der
Musiktheorie im deutschsprachigen Raum leisteten: Es ist Stölzel,
der mit der „Autonomisierung” des verminderten und
übermäßigen Dreiklangs die Tür zu jenem
Verständnis einer skalenbasierten Dreiklangsordnung
aufstößt, aus der die moderne Stufentheorie hervorgeht.
Eine
Lektüre von Stölzels „Anleitung“ führt uns
somit auch zu den Ursprüngen der modernen Harmonielehre, die uns
in der alltäglichen Praxis so selbstverständlich vertraut ist.
Florian Vogts Arbeit wurde 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen.
Band 6:
Joachim Kremer; Heinrich W. Schwab (Hrsg.): Das Amt des Hofkapellmeisters um 1800. Bericht des wissenschaftlichen Symposiums zum 250. Geburtstag des dänischen Hofkapellmeisters Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen (1761-1817), Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab / Royal Danish Academy of Sciences and Letters, 27. September 2011. 240 Seiten, ISBN 978-3-95675-022-9, 29,80 Euro
Das
Hofkapellmeisteramt in der Umbruchzeit der 1800er Jahre stand im
Zentrum einer internationalen Tagung, die im September 2011 an der
Royal Danish Academy of Sciences and Letters (Det Kongelige Danske
Videnskabernes Selskab) in Kopenhagen stattfand. Dieses Musikeramt nahm
vor 200 Jahren in der Hierarchie der Musikerberufe noch immer den
höchsten künstlerisch-sozialen Rang ein, den man als Musiker erreichen
konnte. Im
institutionellen Vergleich umreißen die Studien dieses Bands das
Kapellmeisteramt in Kopenhagen, Eutin, Dresden, Wien, Stockholm und
Berlin. Die Umgestaltung und Transformation einer musikgeschichtlich
bedeutsamen Institution der frühen Neuzeit wird so erkennbar; in der im
18. Jahrhundert erfolgreichen Gattung des „metamelodramma“ ist ein
künstlerisches Spiegelbild der berufsgeschichtlichen Veränderungen zu
erkennen.
INHALT:
HEINRICH
W. SCHWAB: F. L. Ae. Kunzen als Hofkapellmeister. Zum Konflikt von Amt
und Werk • NADINE HEYDEMANN: Adolph Carl Kunzen (1720-1781) und seine
Erfahrungen am Schweriner Hof • OWE ANDER: „Four Marriages and a
Funeral“ – Die Institution des Hofkapellmeisteramtes in Stockholm
1792-1818 • CHRISTOPH HENZEL: Johann Friedrich Reichardt und das
Hofkapellmeisteramt • VOLKMAR BRAUNBEHRENS: Das Amt des
Hofkapellmeisters in Wien um 1800 • FRANK ZIEGLER: Männer „von
vorzüglichem Genie und gutem Geschmacke“? Franz Anton von Weber und
sein Sohn Carl Maria von Weber als Hofkapellmeister in Eutin bzw.
Dresden im Vergleich • JOACHIM KREMER: Höfisches Amt oder
leistungsabhängige Qualifikation? Das „Metamelodramma“ um 1800 als
Spiegel der Professionalisierung der Kapellmeister.
* * * * *
Über Band 1 und Band 2 der Schriftenreihe schrieb Michael Kube in der Zeitschrift Musik und Kirche (4/1998, S. 268f.):
Lokale (Kirchen-)Musikgeschichte
• Joachim
Kremer: Joachim Gerstenbüttel (1647-1721) im Spannungsfeld von
Oper und Kirche-. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Hamburgs. Hamburg
1997: von Bockel Verlag (= Musik der frühen Neuzeit, Band 1). 424
Seiten. DM 48,-.
• Christian
Flor (1626-1697) - Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800). Texte und
Dokumente zur Musikgeschichte Lüneburgs. Hrsg. im Auftrag der
Ratsbücherei Lüneburg von Friedrich Jekutsch, Joachim Kremer
und Arndt Schnoor. Hamburg 1997: von Bockel Verlag (= Musik der
frühen Neuzeit, Band 2). 263 Seiten. DM 29,80.
Lange schon,
aber nicht bei jedem, ist der Glaube an die großen Heroen der
Musikgeschichte und die damit verbundene Musikgeschichtsschreibung
brüchig geworden. Nur zu leicht war und ist man bisweilen noch
versucht, den einen oder anderen verehrten Meister von seinem eigenen
zeitgenössischen Kontext zu separieren, ihn und seine Werke
idealistisch zu überhöhen. Daß jedoch in vergangenen
Jahrhunderten die Musik auch andernorts spielte, wird niemand ernsthaft
bestreiten. Sich ihr zu widmen, ist allerdings mit zahllosen
Schwierigkeiten und Mühen verbunden, will man einen liebgewonnenen
Kleinmeister nicht glorifizieren oder einen „zu Unrecht
vergessenen" Komponisten - derweil ein ziemlich abgegriffenes
Schlagwort - seinem Schattendasein entreißen. Denn zu einer
adäquaten Darstellung, die nicht nur Daten aneinanderreiht, sollte
auch das zeitgenössische Umfeld aus den Quellen erschlossen werden.
Insofern legt
Joachim Kremer mit seiner Studie über den an der Wende zum 18.
Jahrhundert in Hamburg wirkenden Joachim Gerstenbüttel ein
mustergültiges Beispiel einer Biographie vor, die nicht nur den
historischen, soziologischen und musikalischen Kontext
berücksichtigt, sondern auch auf ihm aufbaut. Schon in der
Einleitung wird deutlich, mit wie viel Selbstverständlichkeit
bisher in ausgewiesenen Standardpublikationen ohne hinreichende
Kenntnis über diesen Kantor und „Director musices" geurteilt
und ausgeschmückt wurde. In den folgenden Kapiteln konnte Kremer
auf Ergebnisse seiner 1995 bei Bärenreiter veröffentlichten
Studie Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert. Untersuchungen am
Beispiel Hamburgs (s. MuK 2/1997, S. 116f.) zurückgreifen. Dabei
erwachen die Dokumente des allmählichen Strukturwandels und des
spannungsreichen Verhältnisses zwischen Kirche und Oper durch die
Fokussierung auf eine Person zu direkter Lebendigkeit. Die sprachlich
präzise, durchsichtige wie umsichtige Erläuterung der in der
Hansestadt um 1700 wirkenden Kräfte (ergänzt durch einen
umfangreichen Quellenanhang sowie den Abdruck ausgewählter
Kompositionen nebst Register) verleiht diesem Buch exemplarischen Rang.
Mit ihm ist dem kleinen, aber äußerst rührigen von
Bockel Verlag denn auch ein glänzender Start der neuen (von
Joachim Kremer herausgegebenen) Schriftenreihe Musik der frühen
Neuzeit. Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.-18.
Jahrhunderts gelungen, in der gleichermaßen monographische
Studien, Quelleneditionen und Sammelpublikationen vereint werden
sollen. Zur letzten Kategorie ist der bereits erschienene zweite Band
zu rechnen, der sich vornehmlich dem Leben und Wirken Christian Flors
widmet, inklusive einem Werkverzeichnis mit Nachweis der erhaltenen
Quellen und Drucke und einer umfangreichen Auswahlbibliographie. Der
zweite Teil des Buches umfaßt Texte und Dokumente zu Johann
Abraham Peter Schulz, wobei besonders die Kommentierung der
autobiographischen Skizzen hervorgehoben sei.
Zwar gaben
jeweils runde Geburts- und Gedenktage den äußeren
Anlaß zu den beiden Publikationen, doch machen die Studien
bewußt, wie stark ein scheinbar sicher geglaubtes Bild einer
Epoche noch differenziert werden kann und muß. Beachtlich ist
darüber hinaus auch das Engagement des Verlages, der diesen
vermeintlichen Spezialstudien bei der Herstellung größte
Sorgfalt entgegenbrachte - und dies trotz gediegener Ausstattung
(gebunden mit Schutzumschlag) zu einem Ladenpreis, bei dem man sich
erstaunt die Augen reibt.
Über den Herausgeber der Schriftenreihe:
Joachim
Kremer, Jg. 1958, ist seit 2001 Professor für Musikwissenschaft an
der Musikhochschule Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
der Frühen Neuzeit, insbesondere widmen sich seine
kulturgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten der Sozial- und
Berufsgeschichte sowie der Biographik.