Fokus Deutsches Miserere von
Paul Dessau und
Bertolt Brecht
Festschrift Peter Petersen
zum 65.
Geburtstag
Hrsg. von
Nina Ermlich Lehmann, Sophie Fetthauer,
Mathias Lehmann,
Jörg Rothkamm,
Silke Wenzel und Kristina
Wille.
ISBN
978-3-932696-65-7, 424 Seiten,
(Hamburg 2005), 19,80 Euro
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Aus dem Vorwort
Am 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen organisierte die
Projektgruppe „Musik und Nationalsozialismus“ am Musikwissenschaftlichen
Institut der Universität Hamburg unter der maßgeblichen Beteiligung von Peter
Petersen eine Aufführung von Paul Dessaus und Bertolt Brechts Deutschem
Miserere in der Hamburger Musikhalle. Es handelte sich dabei um die
westdeutsche Erstaufführung. Im Programmheft schrieb Peter Petersen: „Die
Inhalte, die die beiden Autoren hier vertreten, könnten wie selbstverständlich
zum Bildungsgut unseres Volkes gehören. Und die Haltung Dessaus und Brechts, die
noch als Gejagte eine Schuld empfanden, weil sie die Niederlage von 1933 nicht
hatten verhindern können, und gleichwohl die Soldaten nicht verdammten, die über
Europa herziehen mußten, sondern sie zu gewinnen suchten für das Experiment
einer wirklich demokratischen Republik, – eine solche Haltung wäre die Gewähr
dafür, daß der Haß auf Fremde nicht aufkeimen könnte und ein freundliches
Gemeinwesen uns erhalten bliebe.“ Aus dieser humanen Haltung heraus ist es Peter
Petersen bis heute ein großes Anliegen geblieben, die Musik Paul Dessaus und
speziell das Deutsche Miserere einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu
machen. Neben der Forschung zu diesem Werk, deren Ergebnisse er in verschiedenen
Aufsätzen publiziert hat, setzte er sich für weitere Konzertaufführungen ein und
präsentierte es mehrfach seinen Kolleginnen und Kollegen, den Studierenden sowie
einer interessierten Öffentlichkeit. Dieses Engagement fordert es geradezu
heraus, in einer thematisch gebundenen Festschrift für Peter Petersen den Blick
auf das Deutsche Miserere von Paul Dessau und Bertolt Brecht zu
richten.
Das Deutsche
Miserere ist das erste große Gemeinschaftswerk von Brecht und Dessau,
entstanden in den Jahren 1943 bis 1947. Bertolt Brecht hat für das Oratorium den
Text aus eigenen Gedichten zusammengestellt und sie teilweise dem neuen Kontext
angepasst. Der erste Teil des Werkes zeigt in fünf Chören Deutschlands Weg in
den Faschismus, beginnend mit dem bekannten Gedicht: „O Deutschland, bleiche
Mutter!“, mit dem auch Eislers Deutsche Sinfonie beginnt. Der zweite Teil
besteht aus 29 Epigrammen der Kriegsfibel, deren Zeitungsbilder zu den
jeweils vertonten Vierzeilern Brechts auf eine Leinwand projiziert werden –
Szenen des Zweiten Weltkriegs und des „Dritten Reiches“. Der Text des dritten
Teils schließlich greift auf eines der Wiegenlieder zurück, die Brecht
bereits 1932 geschrieben hatte. Am Ende des Deutschen Miserere steht
damit die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wird der Glaube an den Menschen
postuliert: „du, den ich in meinem Leibe trage / du wirst unaufhaltsam
sein.“
Das Deutsche Miserere war von vornherein für die deutsche Bevölkerung nach der Befreiung vom Faschismus geschrieben. Paul Dessau kommentierte dies 1974: „In Amerika konnte es nicht gespielt werden, denn es geht uns an, unsere Entwicklung, unser Elend und unser Weiterkommen, unsere Geschichte.“ Doch mussten Dessau und Brecht bei ihrer Rückkehr aus dem Exil feststellen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Nazi-Faschismus, wie das Deutsche Miserere sie fordert – ein Werk, das die Rolle der Deutschen als Opfer und Täter thematisiert und reflektiert – in der DDR ebenso wenig stattfand wie in der Bundesrepublik und auch nicht gewünscht war.
Erst annähernd 20 Jahre nach Brechts und Dessaus Rückkehr aus dem Exil,
am 20. September 1966, wurde das Deutsche Miserere im Rahmen der „Tage
zeitgenössischer Musik“ und des Internationalen Musikwissenschaftlichen
Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung in Leipzig unter der Leitung von
Herbert Kegel uraufgeführt; am 25. Februar 1988 leitete Herbert Kegel eine
weitere Aufführung in Ost-Berlin. Die dritte Aufführung des Werkes war dann jene
eingangs angesprochene westdeutsche Erstaufführung in Hamburg. Angeregt durch
Peter Petersen und die Hamburger Aufführung organisierte Mechthild von
Schoenebeck am 21. und 23. November 1993 Aufführungen des Deutschen
Miserere in Wuppertal und Solingen.
Peter Petersen stellte 1999 die Frage, „warum das Deutsche
Miserere nicht in Erinnerung an die Befreiung vom Nazifaschismus aufgeführt
wird. Zum Beispiel im Reichstag in Berlin in Anwesenheit von Vertretern aller
Länder, die Deutschland überfallen hat. Das Stück wäre dazu geeignet,
thematisiert es doch nicht so sehr die Schuld der Deutschen als ihre Scham.“
Bereits im Programmheft zur westdeutschen Erstaufführung forderte er dazu auf,
die Haltung, die Brecht und Dessau im Deutschen Miserere zum Ausdruck
bringen, auch als Musiker und Hörer einzunehmen: „Scham mußten die empfinden,
welche – wie Paul Dessau und Bertolt Brecht – sich einem demokratischen
Deutschland verbunden wußten, aber als gerade noch Entkommene die Verheerungen,
die ihre Landsleute anrichteten, nur beobachten und analysieren, nicht aber mehr
abwehren konnten. Und weil es eher unwahrscheinlich ist, daß wir Musiker und wir
Hörer damals unter den wenigen hellen und mutigen Frauen und Männern gewesen
wären, die den Kampf gegen die deutschen Faschisten geführt hätten, vielmehr wir
uns fürchten müssen, daß wir mit den vielen Millionen anderen die Zeichen
übersehen und mißdeutet haben würden, steht es uns gut an, ‘in Beschämung’ an
unsere deutsche Geschichte zu denken und eben auch einmal in dieser Haltung zu
musizieren und zu hören.“
Heute ist der 60. Jahrestag des Kriegsendes. Wiederum ein Anlass zum
Gedenken, zu Gedenkfeiern, zum Nachdenken über den Zweiten Weltkrieg, den
Holocaust und den Nazi-Faschismus in Deutschland, auch in Anbetracht der
weltweit herrschenden Kriege und politischen Willkürakte, in Anbetracht der
vielerorts begangenen Menschenrechtsverletzungen und des weiteren Erstarkens
rechter politischer Kräfte in Deutschland. Die Haltung allerdings, die im
Deutschen Miserere artikuliert wird und die Peter Petersen so dringlich
einfordert, wird bis heute kaum eingenommen. Auch im Jahr 2005 findet
voraussichtlich keine Konzertaufführung des Deutschen Miserere
statt.
Der vorliegende Sammelband
gliedert sich in zwei Teile. In einem ersten Teil wird das Deutsche Miserere
aus analytischer Perspektive betrachtet und in seinem sozialen, entstehungs-
und gattungsgeschichtlichen Kontext verankert. Zudem wird die Wirkungsgeschichte
in verschiedenen Beiträgen dokumentiert. Der zweite Teil schließt daran an. Er
eröffnet Ausblicke auf das vielschichtige Bezugssystem, das im Deutschen
Miserere angelegt ist.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Sammelbandes sind (ehemalige) Doktorandinnen und Doktoranden Peter Petersens und teilweise Mitglieder der Arbeitsgruppe Exilmusik Hamburg. Während wir uns bei unserer musikwissenschaftlichen Arbeit ganz unterschiedlichen Themenbereichen, Perspektiven und Methoden zuwenden, verbindet uns alle die Erfahrung, Musik als lebendigen Teil der vergangenen und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität, als uns betreffende, befragende, aufstörende zu begreifen – also mit Peter Petersens Art und Weise Musikwissenschaft zu betreiben. So gehört zu unseren gemeinsamen Erfahrungen auch, im Saal des Musikwissenschaftlichen Instituts oder im Sprechzimmer Peter Petersens einen Mitschnitt der Ost-Berliner Aufführung des Deutschen Miserere gehört und Diaprojektionen der dazugehörigen Bilder aus der Kriegsfibel gesehen zu haben. Gerade weil die Bedeutung des Werkes bis heute nicht anerkannt wurde, erscheint es uns um so wichtiger, von Seiten der Wissenschaft das Deutsche Miserere und sein Umfeld näher zu untersuchen – als Festschrift für Peter Petersen zu seinem 65. Geburtstag, als Dank für sein unermüdlich forschendes Engagement gegen Rassismus, Faschismus und Krieg, gegen die Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen.
Die Übergabe der Festschrift am 13.7.2005
Inhalt
Grußworte von Constantin Floros, Hans Werner Henze und Peter
Konwitschny
Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber
I Deutsches Miserere: Entstehung, Analyse, Rezeption
Daniela Reinhold
Im Schlagschatten des Krieges. Das Deutsche Miserere – eine Quellengeschichte
Hans-Gerd Winter
Das Wiegenlied im Deutschen Miserere und die Wiegenlieder. Brechts zur Proletarierin modellierte Mutterfigur
Andrea Hechtenberg
Kommunikationsweisen in Dessaus und Brechts Deutschem Miserere und ihr Bezug zu Brechts Theorie eines epischen Theaters
Ilja Stephan
„Wundmale großartigen Misslingens“? Vier analytische Kommentare zu den Nummern 14 bis 17 aus dem Deutschen Miserere von Brecht und Dessau
Gerd Rienäcker
Fibel-Musik? Anmerkungen zu Hanns Eislers und Paul Dessaus Vertonung der Kriegsfibel
Christian Kuhnt
Das Deutsche Miserere von Dessau und Brecht – ein deutsches „pageant“? Überlegungen zu den gattungsspezifischen Einflüssen von Kurt Weills und Ben Hechts We Will Never Die
Daniel Zur Weihen
„Ich schreibe doch keine Graupenmusik.“ Anmerkungen zu Dessaus Position in der frühen DDR und dem Deutschen Miserere
Jörg Rothkamm
Die Leipziger Uraufführung des Deutschen Miserere 1966 im Spiegel der Presse
Kristina Wille
Die Hamburger Aufführung des Deutschen Miserere 1989 im Spiegel der Presse
Klaus Oehl im Gespräch mit Mechthild von Schoenebeck
Paul Dessaus Deutsches Miserere: Die Aufführungen in Wuppertal und Solingen 1993
Mathias Lehmann
Musikalische Erinnerungskultur. Schlaglichter auf das Gedenken an die NS-Zeit in Deutschland
II Ausblicke: Nach dem Deutschen Miserere
Friedrich Geiger
In memoriam Bertolt Brecht von Paul Dessau
Nina Ermlich Lehmann
Verbundenheit und Emanzipation – Die Erweiterung des Brechtschen Opernmodells in Paul Dessaus Puntila
Barbara Busch
„Mit Ausdauer und bei guter Anleitung läßt sich alles erlernen.“ Paul Dessau als Pionier des elementaren Komponierens mit Kindern
Eberhard Rebling
Zehn Lieder von Paul Dessau für Lin Jaldati
Silke Wenzel
„… daß sie endlich einmal besser wird“. Das Thema Frieden in ausgewählten Liedern von Paul Dessau
Sophie Fetthauer
Indianerfilm und Tereszin mit Reisegruppe. Paul Dessaus Zwei Gedichte von Karl Mickel für eine Singstimme und Klavier und ihr Bezug zum Holocaust
Marion Fürst
„Barbarischer Sturm, der eine Welt zerschmiß, musischer Sturm, der solche Scherben zusammenfegte!“ Zu Pablo Picassos Gemälde Guernica und seiner produktiven Rezeptionsgeschichte
Claudia Maurer Zenck
Vergewaltigung als Gleichnis. Zu Bernd Alois Zimmermanns Deutung von Lenz’ Drama in seiner Oper Die Soldaten
Maxim Dessau
„… vielleicht kommt doch ’n ganz kleiner Zweck raus.“
Autorinnen und Autoren
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Einweihung der
Paul-Dessau-Straße in Hamburg:
Christina Weiss (damals
Kultursenatorin von Hamburg), Maxim Dessau und Peter Petersen.