Vladimir Karbusicky:
Geschichte des böhmischen Musiktheaters
Hrsg. aus dem Nachlaß von Melanie Unseld,
Albrecht Schneider, Peter
Petersen.
ISBN 978-3-932696-57-2, 392 Seiten, Softcoverausgabe
74 Abbildungen, zahlreiche
Notenbeispiele, 19,80 Euro
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Die Stationen des Musikwissenschaftlers, der aus Böhmen stammte, verweisen auf ein bewegtes Leben: Im Krieg als Zwangsarbeiter nach Hamburg verschleppt, promovierte er 1953 an der Karls-Universität in Prag. Wegen nicht System konformer Ansichten mußte er 1968 seine Tätigkeit in der "Akademie der Wissenschaften" in Prag aufgeben und emigrieren. Seit 1968 lehrte er an Hochschulen der Bundesrepublik, 1976 wurde er zum Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg berufen.
Die Beschäftigung des
Musikwissenschaftlers mit der Kultur und Historie Böhmens war stets mehr als nur
Reflexion über die eigene Heimat. Karbusicky betrachtete die Kultur und
Geschichte Böhmens - bis in die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts hinein - als
eine durchaus funktionierende multikulturelle Gesellschaft, in der ein
Zusammenleben von Tschechen, Deutschen, Juden sowie unterschiedlichen
Religionsgemeinschaften stattfand. Daraus resultierte ein künstlerisches
Schaffen, das von gegenseitigen Anregungen und Toleranz geprägt
war.
Selbst für die jüngere Geschichte mögen Namen wie Gustav Mahler, Hans Krása, Viktor Ullmann, Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel und andere für die Toleranz und Liberalität jener Region noch Pate stehen. Wenn auch marginal so doch symptomatisch hierfür ist es, daß auf der selben Bühne des Ständetheaters in Prag, auf der 1787 Mozarts "Don Giovanni" uraufgeführt wurde, 1795 zum erstenmal ein Jude unter dem Applaus eines josephinisch gesonnenen Publikums sang, - bezeichnenderweise aus Mozarts "Zauberflöte", die in der Tradition der Aufklärung stand und auch in Böhmen viele Liebhaber hatte. Zu dieser Zeit war das ein nahezu einmaliger Vorgang in Europa.
Karbusicky stellt seine "Geschichte des böhmischen Musiktheaters" jenseits nationalstaatlicher Paradigmata und Ideologien und arbeitet das "Miteinander" der unterschiedlichen Kulturen in seinen historischen Dimension heraus. Gleichsam setzt er ein Korrektiv zu nationalistisch orientierten, in den jeweiligen Sprachen befangenen Darstellungen, die diese Region und die in ihr wirkenden Personen jeweils für sich zu reklamieren versuchten. Der Autor hebt die Eigenständigkeit und das Auf und Ab identitätsstiftender Elemente einer böhmischen Kultur seit dem Mittelalter hervor. "Die Geschichte des Opernschaffens", schreibt er, "ist ein Protokoll dieser Entwicklung". In diesem Kontext ist seine "Geschichte des böhmischen Musiktheaters" zu verstehen.
Das im Nachlaß Karbusickys gefundene Werk - der Autor konnte es vor seinem Tod weitgehend fertigstellen - wurde von den Herausgebern redaktionell bearbeitet. Vollständig übernommen sind zahlreiche historische, schwer zugängliche Archivalien und Abbildungen, die Karbusicky für die Veröffentlichung vorgesehen und ausgewertet hat.
Inhalt (mit Seitenangaben)
Zum Geleit. Die Vergangenheit und eine "andere Geschichte".7
I. Von Spielen mit Musik zum Opernbetrieb
Boihaemum - Bohemia - Böhmen:
das "Böhmertum" 15
Vom Epos zur Oper: Musikdramatische Anfänge und ihre
Spiegelungen im 19. Jahrhundert 23
Die "andere Geschichte" in Sagen und
Libretti 29
Böhmen am Ufer des Meeres: ein Irrtum Shakespeares? 47
Lu
di diabolici, ludi theatrales ecclesiastici 62
Die erste Opera buffa:
Mastickár, der Quacksalber
87
Bohemia, das unbeugsame Land der Ketzer102
Vielfalt und
Toleranz in der nachhussitischen Epoche 143
Das Musiktheater im Dienste der
Jesuiten 168
Jesuitische Theatralität und der Freimaurer Graf Sporck
181
Franz Anton Sporcks Musiktheater und Antonio Vivaldi 214
Glucks Opern
für Prag und das "Patriae et Musis" des Grafen Nostitz 229
"Meine Prager
verstehen mich": Mozart in Prag 264
II. Von der Aufklärung zur Romantik
Das Josephinische Singspiel, die Wende
von 1806 und Conradin Kreutzers Libussa.315
Carl Maria von Weber:
Seine Prager Jahre, Der Freischütz und das Biedermeier .343
Nachwort der Herausgeber ..365
Literaturverzeichnis
.375
Personenregister 382
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Der tschechische Musikwissenschaftler Vladimir Karbusicky (1925-2002), der 1976
als Professor an die Universität Hamburg berufen wurde, hat sich Zeit seines Lebens mit der
Musikgeschichte seiner böhmischen Heimat befasst. Das vorliegende Werk sollte so etwas wie
sein Vermächtnis werden.
Er hat es schwerer Krankheit abgetrotzt und musste es als Torso hinterlassen.
Auch in dieser unvollendeten Form ist es nicht nur für den Fachmann, sondern auch für den Musikfreund von hohem Interesse,
denn das Wissen über die böhmische Musikgeschichte ist hierzulande,
wo eigentlich nur «Die verkaufte Braut» und «Rusalka» fest im Repertoire der Opernhäuser verankert sind, äußerst bescheiden und von vielen Vorurteilen
geprägt.
Karbusicky hatte eine dreiteilige Anlage des Buches geplant: In «Von Spielen mit Musik zum Opernbetrieb» zeichnet er den Weg vom spätmittelalterlichen Singspiel zur
neuzeitlichen Oper nach und arbeitet besonders die Bedeutung des Musiktheaters
im Zeitalter der Aufklärung heraus. Die Theater der Grafen Sporck und Nostitz und später das Ständetheater spielten eine entscheidende
Rolle bei der Emanzipation der böhmischen Menschen von kirchlichen und
weltlichen Mächten. Dass
Mozart mit seinen Opern in Prag besonderen Anklang fand, führt der Autor auf die Nähe seiner Musiksprache zur böhmischen Folklore zurück.
Der zweite Teil «Von der Aufklärung zur Romantik» sollte über den weit unterschätzten Frantisek Skroup, der sich in Prag für Richard Wagner stark machte, zu den
Hauptexponenten böhmischer Musik führen, zu Smetana, Dvorák, Fibich, Foerster und schließlich zu Janácek. Doch bricht das
Manuskript nach zwei Kapiteln über das Josephinische Singspiel und Conradin Kreutzers «Libussa» sowie über Carl Maria von Webers Prager Jahre ab.
Ein dritter Teil «Die Moderne auf dem Weg nach Europa» war auf die Zeit bis 1939 ausgerichtet,
mit Analysen des Spätwerks von Janácek und der Opern Ostrcils, Hábas, Martinus und Ullmanns.
Das gewaltsame Ende des Böhmertums in Theresienstadt und Auschwitz war als letztes Kapitel
vorgesehen.
Auch als Torso ist dieses Buch von außerordentlichem Rang. Denn schon nach
wenigen Seiten der Lektüre wird klar, dass Karbusicky ein universeller Wissenschaftler
war, ein Kulturhistoriker im weitesten Sinne, der Musik immer in einem
geschichtlichen und sozialen Zusammenhang begreift. Fast tausend Jahre böhmischer Geschichte und Mythologie werden
aufgearbeitet, was durchaus notwendig ist, wenn man die über die Jahrhunderte bevorzugten böhmischen Opernstoffe betrachtet, wobei
Libuse und Sárka wohl die häufigsten Vertonungen erfahren haben. Karbusicky ist es wichtig,
immer wieder zu betonen, dass das Böhmische nicht mit dem Tschechischen
gleichzusetzen sei, sondern eine glückliche Synthese aus deutschen,
tschechischen und jüdischen Elementen darstelle. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts
habe diese Synthese zu einem toleranten und fruchtbaren rnultikulturellen
Miteinander geführt. Und
Komponisten wie Skroup und Smetana hätten der nationalistischen Spalterei, die
in ihrer Zeit aufkam, die einigende Kraft ihrer Werke entgegengesetzt.
Ekkehard Pluta