Vladimir Karbusicky:
Geschichte des böhmischen Musiktheaters

Hrsg. aus dem Nachlaß von Melanie Unseld,
Albrecht Schneider, Peter Petersen.
ISBN  978-3-932696-57-2, 392 Seiten, Softcoverausgabe
74 Abbildungen, zahlreiche Notenbeispiele, 19,80 Euro
 

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In den letzten Jahren seines Lebens arbeitete Vladimir Karbusicky (1925-2002) an einer "Geschichte des böhmischen Musiktheaters". Diese Arbeit ist als ein Vermächtnis anzusehen.

Die Stationen des Musikwissenschaftlers, der aus Böhmen stammte, verweisen auf ein bewegtes Leben: Im Krieg als Zwangsarbeiter nach Hamburg verschleppt, promovierte er 1953 an der Karls-Universität in Prag. Wegen nicht System konformer Ansichten mußte er 1968 seine Tätigkeit in der "Akademie der Wissenschaften" in Prag aufgeben und emigrieren. Seit 1968 lehrte er an Hochschulen der Bundesrepublik, 1976 wurde er zum Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg berufen.

Die Beschäftigung des Musikwissenschaftlers mit der Kultur und Historie Böhmens war stets mehr als nur Reflexion über die eigene Heimat. Karbusicky betrachtete die Kultur und Geschichte Böhmens - bis in die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts hinein - als eine durchaus funktionierende multikulturelle Gesellschaft, in der ein Zusammenleben von Tschechen, Deutschen, Juden sowie unterschiedlichen Religionsgemeinschaften stattfand. Daraus resultierte ein künstlerisches Schaffen, das von gegenseitigen Anregungen und Toleranz geprägt war.

Selbst für die jüngere Geschichte mögen Namen wie Gustav Mahler, Hans Krása, Viktor Ullmann, Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel und andere für die Toleranz und Liberalität jener Region noch Pate stehen. Wenn auch marginal so doch symptomatisch hierfür ist es, daß auf der selben Bühne des Ständetheaters in Prag, auf der 1787 Mozarts "Don Giovanni" uraufgeführt wurde, 1795 zum erstenmal ein Jude unter dem Applaus eines josephinisch gesonnenen Publikums sang, - bezeichnenderweise aus Mozarts "Zauberflöte", die in der Tradition der Aufklärung stand und auch in Böhmen viele Liebhaber hatte. Zu dieser Zeit war das ein nahezu einmaliger Vorgang in Europa.

Karbusicky stellt seine "Geschichte des böhmischen Musiktheaters" jenseits nationalstaatlicher Paradigmata und Ideologien und arbeitet das "Miteinander" der unterschiedlichen Kulturen in seinen historischen Dimension heraus. Gleichsam setzt er ein Korrektiv zu nationalistisch orientierten, in den jeweiligen Sprachen befangenen Darstellungen, die diese Region und die in ihr wirkenden Personen jeweils für sich zu reklamieren versuchten. Der Autor hebt die Eigenständigkeit und das Auf und Ab identitätsstiftender Elemente einer böhmischen Kultur seit dem Mittelalter hervor. "Die Geschichte des Opernschaffens", schreibt er, "ist ein Protokoll dieser Entwicklung". In diesem Kontext ist seine "Geschichte des böhmischen Musiktheaters" zu verstehen.

Das im Nachlaß Karbusickys gefundene Werk - der Autor konnte es vor seinem Tod weitgehend fertigstellen - wurde von den Herausgebern redaktionell bearbeitet. Vollständig übernommen sind zahlreiche historische, schwer zugängliche Archivalien und Abbildungen, die Karbusicky für die Veröffentlichung vorgesehen und ausgewertet hat.

Inhalt (mit Seitenangaben)

Zum Geleit. Die Vergangenheit und eine "andere Geschichte".7

I. Von Spielen mit Musik zum Opernbetrieb
Boihaemum - Bohemia - Böhmen: das "Böhmertum" 15
Vom Epos zur Oper: Musikdramatische Anfänge und ihre Spiegelungen im 19. Jahrhundert 23
Die "andere Geschichte" in Sagen und Libretti 29
Böhmen am Ufer des Meeres: ein Irrtum Shakespeares? 47
Lu di diabolici, ludi theatrales ecclesiastici 62
Die erste Opera buffa: Mastickár, der Quacksalber 87
Bohemia, das unbeugsame Land der Ketzer102
Vielfalt und Toleranz in der nachhussitischen Epoche 143
Das Musiktheater im Dienste der Jesuiten 168
Jesuitische Theatralität und der Freimaurer Graf Sporck 181
Franz Anton Sporcks Musiktheater und Antonio Vivaldi 214
Glucks Opern für Prag und das "Patriae et Musis" des Grafen Nostitz 229
"Meine Prager verstehen mich": Mozart in Prag 264

II. Von der Aufklärung zur Romantik
Das Josephinische Singspiel, die Wende von 1806 und Conradin Kreutzers Libussa.315
Carl Maria von Weber: Seine Prager Jahre, Der Freischütz und das Biedermeier .343

Nachwort der Herausgeber ..365
Literaturverzeichnis .375
Personenregister 382

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Aus: Die Opernwelt, Dezember 2006, S. 28

Musik im Dienste der Aufklärung
Karbusickys unvollendete „Geschichte der böhmischen Musiktheaters“

Der tschechische Musikwissenschaftler Vladimir Karbusicky (1925-2002), der 1976 als Professor an die Universität Hamburg berufen wurde, hat sich Zeit seines Lebens mit der Musikgeschichte seiner böhmischen Heimat befasst. Das vorliegende Werk sollte so etwas wie sein Vermächtnis werden. Er hat es schwerer Krankheit abgetrotzt und musste es als Torso hinterlassen. Auch in dieser unvollendeten Form ist es nicht nur für den Fachmann, sondern auch für den Musikfreund von hohem Interesse, denn das Wissen über die böhmische Musikgeschichte ist hierzulande, wo eigentlich nur «Die verkaufte Braut» und «Rusalka» fest im Repertoire der Opernhäuser verankert sind, äußerst bescheiden und von vielen Vorurteilen geprägt.
Karbusicky hatte eine dreiteilige Anlage des Buches geplant: In
«Von Spielen mit Musik zum Opernbetrieb» zeichnet er den Weg vom spätmittelalterlichen Singspiel zur neuzeitlichen Oper nach und arbeitet besonders die Bedeutung des Musiktheaters im Zeitalter der Aufklärung heraus. Die Theater der Grafen Sporck und Nostitz und später das Ständetheater spielten eine entscheidende Rolle bei der Emanzipation der böhmischen Menschen von kirchlichen und weltlichen Mächten. Dass Mozart mit seinen Opern in Prag besonderen Anklang fand, führt der Autor auf die Nähe seiner Musiksprache zur böhmischen Folklore zurück.
Der zweite Teil
«Von der Aufklärung zur Romantik» sollte über den weit unterschätzten Frantisek Skroup, der sich in Prag für Richard Wagner stark machte, zu den Hauptexponenten böhmischer Musik führen, zu Smetana, Dvorák, Fibich, Foerster und schließlich zu Janácek. Doch bricht das Manuskript nach zwei Kapiteln über das Josephinische Singspiel und Conradin Kreutzers «Libussa» sowie über Carl Maria von Webers Prager Jahre ab. Ein dritter Teil «Die Moderne auf dem Weg nach Europa» war auf die Zeit bis 1939 ausgerichtet, mit Analysen des Spätwerks von Janácek und der Opern Ostrcils, Hábas, Martinus und Ullmanns. Das gewaltsame Ende des Böhmertums in Theresienstadt und Auschwitz war als letztes Kapitel vorgesehen.
Auch als Torso ist dieses Buch von au
ßerordentlichem Rang. Denn schon nach wenigen Seiten der Lektüre wird klar, dass Karbusicky ein universeller Wissenschaftler war, ein Kulturhistoriker im weitesten Sinne, der Musik immer in einem geschichtlichen und sozialen Zusammenhang begreift. Fast tausend Jahre böhmischer Geschichte und Mythologie werden aufgearbeitet, was durchaus notwendig ist, wenn man die über die Jahrhunderte bevorzugten böhmischen Opernstoffe betrachtet, wobei Libuse und Sárka wohl die häufigsten Vertonungen erfahren haben. Karbusicky ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass das Böhmische nicht mit dem Tschechischen gleichzusetzen sei, sondern eine glückliche Synthese aus deutschen, tschechischen und jüdischen Elementen darstelle. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts habe diese Synthese zu einem toleranten und fruchtbaren rnultikulturellen Miteinander geführt. Und Komponisten wie Skroup und Smetana hätten der nationalistischen Spalterei, die in ihrer Zeit aufkam, die einigende Kraft ihrer Werke entgegengesetzt.
Ekkehard Pluta


 

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