Kevin Clarke:
"Im Himmel spielt auch schon die Jazzband".
Emmerich Kálmán und die transatlantische Operette.
ISBN 978-3-932696-70-1,
broschur, 592 Seiten,
Hamburg 2007, 48,00 Euro

 

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Die Wiener Operette der 1920er Jahre war vor allem eins: glamouröse Großstadtunterhaltung, gefüllt mit Jazz, Sex und Themen des modernen Lebens. Sie orientierte sich am Broadway und an Hollywood, den Tanzmoden der Zeit und dem Amüsierbedürfnis des Publikums. Kaum einer verkörperte das Ideal der eklektischen "Roaring Twenties Operette" so wie Emmerich Kálmán, der in seinen Stücken die Klänge der Alten und Neuen Welt auf einzigartige Weise fusionierte.

In seiner Studie betrachtet der Musikwissenschaftler Kevin Clarke das Genre Wiener Operette erstmals aus der Perspektive des US-Musicals und untersucht die Verbindungslinien zwischen Werken wie Kálmáns Herzogin von Chicago und Disneys Silly Symphonies, den Ziegfeld Follies, Cole Porter, Frimls Broadway-Operette Rose-Marie und Josephine Baker. Durch diesen Ansatz ergibt sich eine neue Wertung und modernere Einordnung der Gattung "Silberne Operette" als bislang in der Operettengeschichtsschreibung üblich. Am Beispiel des Zeitabschnitts 1928 bis 1932 beschreibt der Autor, wie Kálmán den Höhepunkt seiner Karriere und der nach amerikanischem Muster gestalteten Operette erreichte – und warum er sich plötzlich von diesem Modell verabschiedete.

Der Umschwung in Kálmáns künstlerischer Entwicklung ging einher mit einer Wende in seinem Privatleben, der Begegnung Kálmáns 1928 mit seiner späteren Gattin Vera. Der Autor beschreibt die wahre Geschichte dieser ruinösen Beziehung und scheut sich im Gegensatz zu bisherigen Biografen nicht, im Intimleben des Komponisten nach den Gründen für den Wendepunkt in Kálmáns Karriere zu suchen. Er zeichnet dabei ein deutlich anderes Bild von Kálmán-dem-Menschen, als bislang überliefert. Es ist ein Bild, das zur modernen, großstädtischen Seite von Kálmáns Oeuvre passt und den Komponisten neuerlich zur Diskussion stellt – fern aller rot-weiß-grünen Csárdás-Klischees.

Kevin Clarke (geb. 1967) ist freier Autor und Musikwissenschaftler mit Schwerpunkt Operette und Musical der 1920er bis 50er Jahre. Er studierte an der Berliner Freien Universität Musik- und Literaturwissenschaft und promovierte – nach mehrjähriger Tätigkeit als stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter, u.a. beim deutschen Playboy – 2005 zum Thema "Emmerich Kálmán und die transatlantische Operette". Beim SWR erschien eine Serie von Radiosendungen über Operettenkomponisten im Exil (Kálmán, Stolz, Benatzky, Heymann usw.). 2003 war er Erfinder und Organisator der ersten Singleparty für Opernfans an der Komischen Oper Berlin, die im Rahmen der Neuinszenierung von Kálmáns Csárdásfürstin stattfand, eine Produktion, deren Pressearbeit er leitete. Im gleichen Jahr war er wissenschaftlicher Berater eines TV-Films über Kálmán (Mag auch die ganze Welt versinken). 2004 veröffentlichte er ein Buch über Operetten und Musicals, die in Holland spielen (The Red Mill, Hollandweibchen usw.). Für die Staatsoperette Dresden konzipierte und organisierte er 2005 die Tagung "Operette unterm Hakenkreuz". Seit 2006 ist er Direktor des "Operetta Research Center Amsterdam".

Rezension aus:
„Jüdische Literatur - Frühjahr 2007“, Beilage zur
„Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung
für Politik, Kultur, Religion und jüdisches Leben“, 22.3.2007, Seite 35

Czardasfürst am Broadway
Emmerich Kálmán oder wie die Operette zum Musical wurde
von Jonathan Scheiner


Heutzutage gilt die Wiener Operette als Inbegriff des musikalischen Miefs. Da ist es ein kühnes Unterfangen, einen ihrer ersten Repräsentanten, Emmerich Kálmán (1882-1953), aus der historischen Klamottenkiste hervorzukramen und ihm einen 600-Seiten-Wälzer auf den Leib zu schreiben. Genau das hat der Musikwissenschaftler Kevin Clarke getan, als er sich (zum Zwecke der Verfertigung seiner Doktorarbeit) an den Schöpfer so berühmter Operetten wie der „Czardas-Fürstin" oder „Gräfin Mariza" machte. Clarkes Buch strotzt nur so vor Wissen und Detailreichtum - und ist trotz seines umfangreichen wissenschaftlichen Apparats überaus kurzweilig geschrieben.
Clarke diagnostiziert an Kálmáns Werken zwischen 1928 und 1932 den beginnenden Niedergang seines Œuvres und damit des gesamten Genres der „Silbernen Operette". Obendrein stellt er dar, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen zwischen Wien, New York und Hollywood für das Werk des ungarisch-jüdischen Komponisten waren. Das Buch liest sich auch deshalb so gut, weil viel Zeitkolorit mittransportiert wird. Ein Schmöker also nicht nur für Experten, sondern auch für diejenigen, die gerne durch die Weimarer Republik und über den Broadway flanieren.
Kálmáns Werke gehörten zu den meistgespielten Operetten der zwanziger Jahre. Das gilt nicht nur für die Alte Welt, wo auch die Komponisten Ralph Benatzky und Franz Lehár um die Krone der „Silbernen Operette" wetteiferten, sondern auch für Amerika. Der internationale Erfolg erstaunt nicht, wenn man sich die einzelnen Operetten genauer ansieht. Kevin Clarke bezeichnet Kaimans Werke als „Fusion", als „transatlantische Operetten", die eine „eklektizistische Mischung aus deutschem Schlager und amerikanischem Jazz, Budapester Czardas-Rausch und Wiener Walzer-Seligkeit sowie aktuellen Broadway- und Hollywood-Klängen" darstellen. Schon aus finanziellen Beweggründen waren die Stücke nah am Puls der Zeit. Czardas-Klänge und Puszta-Rhythmen bilden zwar das Rückgrat der Operetten, aber es wurden auch Tänze integriert: ein Shimmy, ein Foxtrott, ein Charleston. Doch weil man im Opernhaus nicht tanzen kann, ließ Kaiman die einzelnen Nummern auf Schellack pressen. In diesem Punkt war der Komponist absolut auf der Höhe der Zeit und vergleichbar mit amerikanischen Kollegen wie Cole Porter. Gerade Kálmáns „Herzogin von Chicago" (1928) legt Verbindungen zum amerikanischen Musical, etwa zu den „Ziegfeld Follies", zur Broadway-Operette „Rose-Marie" und nicht zuletzt zu Josephine Baker nahe. All dies stellt Clarke brillant dar.
Doch der Teufel steckt im Detail. Den Niedergang des Kálmánschen Werkes macht Clarke an der zweiten Frau des Komponisten dingfest. Dabei übersieht er, dass der Untergang der Operette Hand in Hand ging mit dem Untergang der Alten Welt. Tatsächlich änderte sich das Werk, seit Kálmán eine Liaison mit der „Femme Fatale" Marie Mendelsohn einging, die sich als verarmte russische Adelige Vera ausgab und bis zu ihrem Tod verschwieg, dass sie die Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Lettland war. Dieses Detail wirft tatsächlich ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen dem Komponisten und, wie es hieß, einer der schönsten Frauen jener Zeit. Doch die These vom „weiblichen Unheil" wirkt überspannt.
Vielmehr hatte sich das Genre Operette überlebt. Kevin Clarke schreibt es zwar an anderer Stelle, aber wertet es nicht: „Die Silberne Operette ist eine von tiefem Sentiment und Selbstironie durchdrungene Kunstform, die zum überwiegenden Teil von Juden geschrieben und aufgeführt wurde, zumindest bis 1933." Doch während das Genre in der Alten Welt als entartet gebrandmarkt wurde, feierte es am Broadway eine neue Blüte - unter dem Etikett „Musical".

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