Literaturwüste City Nord.
Hamburg-Geschichten rund um die City Nord
216 S., 42 Abb., 978-3-932696-63-3,
Broschur, 14,80 Euro
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„Das
Wachstum der Großstädte zwingt die Städtebauer zu
neuartigen Lösungen“, schrieb 1962 der damalige Erste
Bürgermeister Hamburgs, Dr. Paul Nevermann. „Hamburg ist in
der glücklichen Lage, durch die Errichtung eines neuen
Geschäftsgebiets im Norden des Stadtparks eine wirksame
Dezentralisierung herbeizuführen. Kaum eine andere deutsche
Großstadt kann Baulandreserven, wie sie hier erschlossen werden,
anbieten.“
In wenigen
Jahren wurde auf einem Gebiet neben dem Hamburger Stadtpark eine
Trabantenstadt errichtet. Der städtebauliche Ideengeber und Planer
der City Nord war der Architekt Werner Hebebrand (1899-1966), - von
1952 bis 1964 Oberbaudirektor in Hamburg. Nach seinem Tod wurde eine
Straße im nördlichen Teil der City Nord nach ihm benannt.
Ein
vielfältiges soziales Leben wollte der Planer der
„Bürostadt im Grünen“ verwirklicht wissen:
„Hier sollen die zur Bedienung des Gebiets notwendigen Betriebe
untergebracht werden. Es ist Platz für ein Hotel, für ein
Lichtspieltheater (oder Theater), für Bankfilialen, Restaurants
und Bars (auch Tagesbars), für Läden und ein Warenhaus. Auch
wäre die Unterbringung von Behörden - möglicherweise
einer Finanzdienststelle - möglich, Andachtsräume
(evangelisch und katholisch) sind denkbar.“ Mit
schwärmerischer Fortschrittsgläubigkeit schrieb Hebebrand
bereits 1959 über die Verkehrsanbindung der
„Geschäftsstadt Nord“, daß in Zukunft als
„Lufttaxis“ eingesetzte Hubschrauber das Areal mit der
Hamburger Innenstadt verbinden sollten.
Etwa in der
ausgehenden Blütezeit von Stadtplanern wie Werner Hebebrand, im
Jahr 1965, veröffentlichte der Frankfurter Psychoanalytiker
Alexander Mitscherlich (1908-1982) ein Buch: „Die Unwirtlichkeit
unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“.
Er beklagte,
daß beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte in
Deutschland eklatante Bausünden durch die Stadtplaner begangen
worden waren. Mitscherlich wies darauf hin, daß Städte einst
einen eigenen Charakter hatten. Er selbst nennt es das
„Herz“. Dieses fehle in den Zentren der
Trabantenarchitektur.
Die Städte
von einst hatten integrierte Lebens- und Arbeitsräume. Das wurde
„funktionell entmischt“: Hier Büro, - da wohnen, -
dort Freizeit, - hier Kindunterbringung, - da Altenablage. Und alles
ist adrett in Beton geordnet. Die so gestalteten Städte haben
Rückwirkungen auf die Sozialisation ihrer Bewohner. Ein
konstruktives Sozialverhalten fördern sie nicht, vielmehr lassen
sie soziales Engagement gar nicht erst aufkommen, - der
„Dschungelaspekt der Konkurrenzgesellschaft“ (Mitscherlich)
dominiere in ihnen.
Bei einem
Spaziergang durch die City Nord fällt auf, daß man dieses
Stadtgebilde jedem x-beliebigen Ort in Deutschland, Europa, ja der
ganzen Welt zuordnen kann. Ein spezifisches „Herz“,
Identifikation stiftende Angebote, sucht man vergebens.
Die vorliegende
Anthologie stellt in Geschichten, Reportagen, Dokumentationen
Alltagsleben in und um die Hamburger City Nord herum dar. Damit begeben
sich die Beiträge in das Spannungsfeld zwischen jenen
technokratischen Utopien, die Stadtplaner wie Hebebrand einst an ein
„modernes“ Stadtleben knüpften, und ihrer Kritiker,
die wie Mitscherlich vor sozialer Entfremdung in Betonlandschaften
warnten.
Vielfältige
Aspekte werden aufgegriffen, ob es dabei um Geschichten über
Bauernproteste vor Lebensmittelfirmen in der City Nord geht oder
über ein Neujahrsfest im Heim am Dakarweg, - das
Aufeinandertreffen einer Vielzahl von Nationalitäten am
Wesselyring oder Freizeitaktivitäten wie Schachspielen im
Stadtpark, - Einsamkeitserfahrungen trotz hoher Einwohnerdichte oder
Weihnachten als Muslim, - die allmorgendlich „putzenden
Kopftuchbataillone“ in den Bürobauten oder
Rendezvous-Erfahrungen unterm Planetarium, - historische Betrachtungen
über den Stadtplaner Werner Hebebrand oder auch nur einer kurzen
Begegnung mit Inge Meysel, die für kurze Zeit zu den ersten
Bewohnerinnen der City Nord gehörte, und anderes mehr: Die Texte
sind kleine Seismographen, mit denen Ansprüche von einst an das
Stadtleben und Alltagswirklichkeiten von heute überprüft
werden.
Vier Themenschwerpunkte werden aufgegriffen:
·
Historische Betrachtungen zu dem Gebiet, auf dem die
heutige „Trabantenstadt“ errichtet wurde und zur
Entstehung der City Nord.
· Alltagsgeschichten aus der City Nord.
· Geschichten aus den Wohnsiedlungen neben der „Bürolandschaft im Grünen“.
· Der nahe gelegene Stadtpark und seine Bedeutung für die Menschen.
Die Texte geben
einen Eindruck von dem Leben in einem Hamburger Stadtgebiet, das mit
dem Image des „Unwirtlichen“ zu kämpfen hat und bisher
noch nie in einem Stadtteilbuch gewürdigt wurde. Der Band beweist:
Die Wüste lebt!
Der Leser
erfährt auch: Am Rand der City Nord, in der Siedlung am
Wesselyring, stößt man auf ein vielfältiges soziales
und kulturelles Leben. Hier liegt das Waschhaus am Wesselyring 51, wo
sich auch die Aktivistinnen und Aktivisten einer Schreibwerkstatt
regelmäßig treffen und sonntäglich Lesungen
stattfinden, bei denen auch durchaus „bekanntere Namen“
auftreten. Organisiert werden diese Aktivitäten seit einigen
Jahren von dem Hamburger Schriftsteller Peter Schütt. Mit einer
kleinen Chronik von über 100 „Waschhauslesungen“ der
letzten 3 Jahre werden diese Aktivitäten im Anhang des Bandes
dokumentiert.
Beiträgerinnen
und Beiträger des vorliegenden Bandes sind: Sabine Ackermann,
Akram Ahmadi, Michael Baade, Wolfgang Beutin, Rolf von Bockel, Heiko
van Dieken, Anita Dulski, Heidi Egbering, Maren Egbering, Angelika
Flotow, Uwe Grapenthien, Ahmad Husseini, Rainer Kellner, Gabriele
Krause, Otto Leunig, Morassah Mazloumsaki, Hans Otte, Ilyas
Özdemir, Carmen Peche, Sylvia Schmudlach, Peter Schütt,
Margret Silvester, Hans Georg Timm, Gerda Zorn.
* * *
* * *
Textprobe:
Peter Schütt
Bauernaufstand in der City Nord
Seit Jahr und Tag bemühen sich die Behörden und Sponsoren
vergeblich, den sterilen, von Glas, Stahl und Beton geprägten
Bürokomplex der Hamburger City Nord mit Leben zu erfüllen.
Und dann dies: vor der Verwaltungszentrale der Edeka, dem
marktbeherrschenden Vermarktungsunternehmen für Agrarprodukte,
ziehen an einem Frühlingsmorgen im April 2004 Horden erboster
Bauern auf, um gegen die in ihren Augen viel zu niedrigen Milchpreise
zu protestieren. Sie kommen nicht allein. Sie kommen mit Transparenten,
auf denen geschrieben steht: „Seit wann ist Milch billiger als
Wasser?“ Sie kommen mit Traktoren. Mit einem ganzen Fuder Mist,
das sie kurz entschlossen mit einem Kipplaster vor dem Eingang zur
Zentrale abladen. Mit Mistforken rücken sie an, die sie wie einst
die Bauernkrieger drohend erheben. Mit altertümlichen
Dreschflegeln und mit altgedienten Milchkannen, auf die sie mit
Ochsenziemern so heftig einschlagen, dass die spiegelglatten
Bürofassaden davon widerhallen. Es ist ein regelrechter
Bauernaufstand, den die Landwirte aus meiner niederelbischen Heimat
ausgerechnet hier in der Kulturwüste der City Nord inszenieren.
Immer mehr Polizei rückt an und bildet schließlich einen
hermetischen Kordon, um die Vermarkter vor dem gerechten Zorn der
Erzeuger zu schützen. Nach minutenlangen Sprechchören tritt
endlich der Pressesprecher der Edeka vor die Demonstranten und
versucht, mittels eines Polizeilautsprechers beruhigend auf die
aufgebrachten Landwirte einzuwirken. Doch was er auch daherredet, er
erreicht mit seinen Worten nur das Gegenteil dessen, was sein Auftritt
bewirken sollte.
Ich bin mitten im Geschehen und stehe zugleich darüber. Auf dem
Weg zu meiner Post bin ich zufällig vorbeigekommen und bin auf der
Fußgängerbrücke vor der Konzernverwaltung stehen
geblieben, um mir das Bauernkriegsspektakel aus nächsten Nähe
von einem Tribünenplatz anzuschauen. Ich habe die ganze Szene voll
im Blick, als Milchbauer Johann Piepenring aus Gräpel bei
Himmelpforten - so die Namensangabe an seinem Trecker - seinen
Viehtransporter durch die Demonstranten steuert und ihn direkt vor dem
Edeka-Portal zum Stehen bringt. Die Polizei versucht ihn zum Abdrehen
zu bewegen, aber der Bauern lässt sich nicht auf- und nicht
abhalten. Er öffnet kurz entschlossen die Verladerampe und schiebt
dann drei stattliche rotbunte Kühe ins Freie. Die Rindviecher
wirken keineswegs gelassen, wie es sonst ihre Art ist. Sie sind wie die
Bauern ringsum von innerer Unruhe erfasst und machen alle Anstalten,
wutschnaubend loszustürmen. Etliche Landwirte müssen helfen,
die wildgewordenen Rinder zu bändigen und an die Leine zu nehmen.
Bei zweien gelingt das Manöver, aber die dritte Kuh widersetzt
sich den Fesselungsversuchen und stürzt sich stiernackig nach vorn
- geradenwegs auf den Pressesprecher zu. Der lässt vor Schreck das
Megaphon fallen, erstarrt für einen Moment zur Salzsäule, und
dann nimmt ihn auch schon die rasende Kuh ohne Ansehen der Person auf
ihre Hörner. Der Herr Pressesprecher kreischt, hängt dann
für ein paar Sekunden den Kopf nach unten über dem Nacken der
Kuh und stürzt so unsanft ins Rosenbeet. Nachdem sie ihren
Herausforderer zu Boden gestreckt hat, bleibt die Kuh eher gelangweilt
stehen und sieht zu, wie sich Bauern, Polizisten und herbeigeeilte
Sanitäter um den armen Mann kümmern, der mehr als ein paar
Schrammen abbekommen hat. Als er auf einer Bahre vom Platz getragen
wird, lässt sich die Siegerin ohne Widerstand von ihrem Besitzer
abführen. Ich habe den Eindruck, dass die Kuh ihren Auftritt
genossen hat und sich der klammheimlichen Sympathien der meisten
Beteiligten ziemlich sicher ist.
Als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlage, um zu sehen,
welchen Niederschlag der Bauernprotest in der Presse erfahre hat,
blättere ich vergeblich. Nichts davon! Die Meldung, dass dumme
Bauern im Bunde mit dummen Kühen einen neunmalklugen
Konzernsprecher auf die Hörner genommen haben, wurde schlicht auf
dem Altar der politischen Korrektheit geopfert. Und Bauer Piepenring
bekommt auch nicht die Prämie von dreitausend Euro, die der
Edekakonzern kürzlich für die besten Ideen zur Belebung der
City Nord ausgeschrieben hat. So bringe ich jetzt in aller Form den
Vorschlag in die Debatte, man möge auf die große, leblose,
kahlgeschorene Wiese hinter der Edeka-Zentrale einen Stall mit echten
Kühen setzen. So könnten die Großstadtbewohner live
erleben, dass die Milch nicht aus dem Getränkeautomaten, sondern
aus dem Euter der Kühe stammt.